Otto Lilienthal, oder: Die Welt von oben
Otto Lilienthal ist der erste Mensch, dem der freie Flug durch die Luft gelingt – und zwar nicht mit einem Ballon nach dem Prinzip „leichter als Luft“, sondern „schwerer als Luft“ wie ein Vogel! Es ist nicht der Apfel, der ihm auf den Kopf fällt, kein plötzlicher Geniestreich, der ihm die Eingebung zu einer bahnbrechenden Erfindung gibt. Lilienthals Gleitflugapparate sind das Ergebnis systematischer wissenschaftlicher Arbeit. Großen Anteil an deren Entwicklung hat auch sein Bruder Gustav. Die in Anklam geborenen Jungen sind von Kindesbeinen an davon überzeugt, dass es nicht den Vögeln allein vorbehalten ist, aus eigener Kraft zu fliegen; und sie setzen alles daran, das in Theorie und Praxis zu beweisen. Am Anfang steht die Beobachtung der Vögel und, um ihnen „die Kunst des Fliegens abzulauchen“, gehen die Brüder im Laufe ihres Forscherlebens systematisch vor: Sie setzen sich mit dem speziellen Körperbau der Tiere und der Verhaltensbiologie auseinander, eignen sich den aktuellen Forschungsstand von der Chemie der Muskeltätigkeit ebenso wie die Kenntnisse über den Flug von Pflanzensamen an und misst die Leistungen der Vögel beim Flügelschlag. So nähern sie sich Schritt für Schritt den Eigenheiten der Vogelflügel an, um sie schließlich nachzubauen und ihre Eigenschaften mit selbstgebauten Versuchsgeräten zu simulieren. Es ist später vor allem Otto Lilienthal, der aus den Messergebnissen den entscheidenden Schluss zieht und als erster das Prinzip erkennt, das für den Auftrieb des Flügels verantwortlich ist.
Aber noch etwas ist entscheidend für die Pionierleistung Otto Lilienthals: seine Leidenschaft. Das Fliegen ist für ihn eine Kunst und wichtiger als die Theorie wird ihm bald die Flugpraxis. Die ästhetische Erfahrung des Fliegens ist Lilienthals Antrieb, den Segelflug immer und immer wieder zu üben und dabei nicht nur theoretisches, sondern auch körperliches Wissen zu erlangen. Fliegen ist für Lilienthal „unbeschreiblich schön“ und deshalb entfacht, wie er schreibt, „das sanfte Dahingleiten über die weit ausgedehnten sonnigen Berghänge den Eifer bei jedem Sprunge von Neuem“.
Die Geschichte Otto Lilienthals und seines Bruders Gustav wird zukünftig im IKAREUM in Anklam erzählt. Das Otto Lilienthal Museum zieht mit einer neuen Dauerausstellung in die einstige Taufkirchen von Otto und Gustav Lilienthal und erhält dadurch ganz neue Möglichkeiten, um die Verbindungen der Lilienthals zur Geschichte der Stadt, zum Zeitgeist des 19. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte des Fliegens zu vermitteln.
Ich habe für beier+wellach projekte zwei Drehbücher erarbeitet, die als Grundlage für dieses Vorhaben dienen. Zunächst entsteht das Lilienthal Lab, das in der Nikolaikirche innovative Ansätze zur Präsentation der Brüder Lilienthal und der Geschichte des Fliegens erprobt. Das Herzstück des Labs ist ein Multimediaguide. Mit einer multiperspektivischen, informativen und unterhaltsamen Darstellung bietet dieser Bezüge der historischen Protagonisten zur Geschichte des Ortes und kontextualisiert ihre Geschichte in der Stadt Anklam und der Region. Der Guide führt die Besucher*innen auf eine Spurensuche in der Nikolaikirche durch unterschiedliche Zeitschichten des Baudenkmals. Die Geschichte der Kirche reicht von der mittelalterlichen Entstehungszeit im Kontext der Hansestadt über die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg bis in die gegenwärtige Umnutzung als kultureller Ort in Anklam. Der Multimediaguide dient als zentrales Vermittlungsmedium der Ausstellungsinhalte und verbindet ein Ausstellungserlebnis vor Ort mit digitalen und virtuellen Vertiefungsmöglichkeiten auf dem eigenen Smartphone. Das Drehbuch zur Dauerausstellung des IKAREUMS baut auf dem Lilienthal Lab auf und wird auf den gesamten Kirchenraum ausgedehnt und durch interaktive und sportive Elemente sowie museumspädagogische Formate erweitert.
Zur Website des Ikareums und des Otto Lilienthal Museums